Gegen das Vergessen

Vorwort

Sehr geehrte Leserinnen und Leser,
liebe Schülerinnen und Schüler,
bevor Sie sich in die Lektüre dieser Broschüre vertiefen, möchte ich noch einige
Worte zu ihrer Entstehungsgeschichte an Sie richten.
Im Rahmen einer Initiative des Arbeitskreises Justiz, der sich der Aufarbeitung und
der Erinnerungsarbeit widmet, hat die Mannheimer Akademie für soziale Berufe, als
eine der zahlreichen Mannheimer Schulen, im Jahr 2022-23 die Patenschaft für das
Mahnmal für die Opfer der Zwangssterilisation im Nationalsozialismus übernommen.
Uns als Schulgemeinschaft war schnell klar, dass wir uns als soziale Schule in der
Verantwortung sehen einen aktiven Beitrag zur Erinnerungsarbeit zu leisten. Als geeignetes
Instrument kristallisierte sich im Laufe der Zeit die Gestaltung einer Broschüre
heraus.
Dieses dunkle Kapitel der Geschichte wurde in verschiedenen Arbeitsgemeinschaften,
Unterrichtsprojekten und Gesprächen an der Mannheimer Akademie thematisiert.
Aus informierenden Gesprächen wurden angeregte Diskussionen – aus Geschichtsunterricht
wurde persönliches Interesse und aus diesem Interesse wurde
schließlich das Anliegen, aktiv etwas für die Erinnerungsarbeit zu leisten und aktiv
etwas gegen das Vergessen zu tun. Diese Broschüre ist dieses in Worte gegossene
Anliegen einer Schülerin, die ich während der Recherche und Konzeption begleiten
durfte. Danken möchte ich an dieser Stelle all jenen in unserem Haus, die diese Broschüre
möglich gemacht haben. Dankbar bin ich auch dafür, dass wir etwas geschaffen
haben, was nicht nur als einmaliger Beitrag im Rahmen unserer Patenschaft für
das Mahnmal seine Verwendung findet, sondern nachhaltig als Informationsquelle
und Werk der Aufklärung, bestand hat.
Die Realisierung dieser Broschüre zeigt vor allem eines: nämlich, dass die Verbrechen
denen mit dem Mahnmal gedacht wird, auch für die jüngeren Generationen
immer noch virulent sind und dies hoffentlich auch immer bleiben werden.

Martin Emser
Fachlehrkraft für Geschichte.

Einleitung

Fotografie der Tötungsanstalt Hadamar mit rauchendem Schornstein 1941. Foto: Gedenkstätte Hadamar, Sammlung FS 4

„Die […] unheilbar Blödsinnigen […] haben weder den Willen zu leben noch zu sterben. […] Ihr Leben ist absolut zwecklos […]. Für ihre Angehörigen wie für die Gesellschaft bilden sie eine furchtbar schwere Belastung. Ihr Tod reißt nicht die geringste Lücke […].“

Das folgende Zitat des Juristen Karl Bindung aus seinem für die NS- Ideologie maßgeblichen Werk „Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens. Ihr Maß und ihre Form“ veranschaulicht den zentralen Gedanken der nationalsozialistischen Ideologie, der besagte, dass das Leben von Menschen mit körperlichen und psychischen Erkrankungen während der Herrschaft des Nationalsozialismus als „unwert“ und „minderwertig“ angesehen wurde. Als Folge davon initiierten die Nationalsozialisten einen systematischen Massenmord, der Tausende von Kindern und später auch Erwachsene betraf.

Die Frage, wie unsere Gesellschaft mit Menschen mit Behinderungen umgeht, die potenziell von sozialer Ausgrenzung bedroht sind, ist von entscheidender Bedeutung in unserer heutigen Zeit. Diskriminierung gegenüber Menschen mit Behinderungen tritt in verschiedenen Lebenssituationen verstärkt auf. Daher ist es äußerst relevant, dieses Thema ausführlich zu diskutieren. Unsere Broschüre widmet sich genau dieser wichtigen Thematik und beleuchtet die verschiedenen Aspekte dieses gesellschaftlichen Anliegens. Es ist grundlegend zu verstehen, was der Begriff bedeutet, um sich eingehender mit dem Thema auseinanderzusetzen.

Der Begriff „Euthanasie“ leitet sich aus den altgriechischen Wörtern „eu“ (gut) und „thanatos“ (Tod) ab.

Selbst in der heutigen Zeit sind Behinderungen und psychische Erkrankungen von gesellschaftlichen Tabus und Vorurteilen umgeben. Während der nationalsozialistischen Diktatur wurde die körperliche und geistige Gesundheit des deutschen Volkes zu einem politischen Ideal erhoben, was zu schweren Verbrechen gegen Menschen mit Behinderungen führte. Scham und Furcht hinderten viele daran, sich mit diesen dunklen Kapiteln auseinanderzusetzen.

Stolperstein für Lilli Antonia Hoppe in der Augartenstr. 74

Es gab keine effektiven Interessenvertretungen für Menschen mit Behinderungen oder psychischen Erkrankungen. Politische Parteien und Organisationen, mit Ausnahme der Kirche, engagierten sich kaum für ihre Anliegen. Es fehlte an einer Vernetzung zwischen Betroffenen und ihren Familien, und die Gesellschaft zeigte wenig Solidarität oder Interesse am Leben und Schicksal dieser Menschen. Bedauerlicherweise hat sich diese Grundhaltung bis heute nur wenig geändert, trotz der Anerkennung der Behindertenrechtskonvention der Vereinten Nationen im Jahr 2008.

In dieser Broschüre möchten wir nicht nur über die dunklen Kapitel der Geschichte informieren, sondern auch ein Bewusstsein schaffen. Die Aufklärung über die grausamen Ereignisse der nationalsozialistischen Euthanasie ist von entscheidender Bedeutung, um sicherzustellen, dass diese schrecklichen Taten nie vergessen werden. Es ist unsere Verantwortung, die Erinnerung an die Opfer am Leben zu erhalten und gleichzeitig das Bewusstsein für die Herausforderungen zu schärfen, mit denen Menschen mit Behinderungen heute konfrontiert sind.

Wir setzen uns dafür ein, dass die Opfer nicht vergessen werden und dass wir als Gesellschaft gemeinsam für eine inklusive und gerechte Zukunft eintreten.

Stolperstein für Friederike Wild, Almenstr. 18

Der Weg zur nationalsozialistischen „Euthanasie“ durch das Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses

Werbebild des Rassenpolitischen Amtes der NSDAP (Volk und Rasse Jg. 1936)

„Die Rechtsgrundlage für die Zwangssterilisation bildet das sogenannte Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses (GzVeN), das am 14. Juli 1933 vom Kabinett beschlossen wurde.“

In diesem Gesetz steht die Bekämpfung von Erbkrankheiten im Vordergrund, welche für die Nationalsozialisten von großer Bedeutung war. Etwa 400.000 Menschen wurden zwangssterilisiert, wobei die Folgen des Eingriffs in Form von Todesfällen bei geschätzten 5.000 Personen, vorwiegend Frauen, auftraten. Berücksichtigt man das genannte Sterilisationsgesetz, so wird deutlich, dass das GzVeN an den Vorstellungen aus der Weimarer Republik und den preußischen Entwurf von 1932 anknüpft. Es ist wichtig, darauf hinzuweisen, dass ein wesentlicher Unterschied zwischen beiden Gesetzen besteht. Eine der wesentlichen Verschiedenheiten zwischen beiden Gesetzen ist, dass das Sterilisationsgesetz der Nationalsozialisten im Vergleich zu dem preußischen Entwurf ein Zwangsgesetzt war. Während der Preußische Landesgesundheitsrat die Durchführung der Sterilisation noch von der Zustimmung des Betroffenen abhängig machen wollte, verfügte § 12 des GzVeN ausdrücklich, dass der Eingriff auch gegen den Willen des Unfruchtbarzumachenden auszuführen sei.

Im Folgenden wird § 1 des Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses dargestellt:

(1) Wer erbkrank ist, kann durch chirurgische Eingriffe unfruchtbar gemacht werden (sterilisiert) werden, wenn nach den Erfahrungen der ärztlichen Wissenschaft mit großer Wahrscheinlichkeit zu erwarten ist, dass seine Nachkommen an schweren körperlichen oder geistigen Schäden leiden werden.

(2) Erbkrank im Sinne dieses Gesetzes ist, wer an einer der folgenden Krankheiten leidet:

  • angeborenem Schwachsinn,
  • Schizophrenie,
  • zirkulärem (manisch-depressivem) Irresein,
  • erblicher Fallsucht
  • erblichem Veitstanz (Huntingtonsche Chorea),
  • erblicher Blindheit
  • erbliche Taubheit
  • schwerer erblicher körperlicher Missbildung.

(3) Ferner kann unfruchtbar gemacht werden, wer an schwerem Alkoholismus leidet

Ab 1939 wurden sie ermordet: Kinder mit Down-Syndrom, die sich in öffentlichen Anstalten befanden

„Auf den ersten Blick suggeriert die Formulierung „kann unfruchtbar gemacht werden“ in § 1 des Gesetzes, dass die Sterilisation einen freiwilligen oder fakultativen Charakter hatte. Dies war jedoch keineswegs der Fall“. Diese Annahme beruht auf dem Gesetzeskommentar, der besagt, dass es möglich war, einen Menschen, der an einer dieser Krankheiten litt, zur Sterilisation zu verurteilen, selbst wenn es in seiner Familie keine anderen Krankheitsfälle gab.

Stolperstein für Karl Johann Gaisbauer, Fischerstraße 43

Krankheitsbilder, die als „Erbkrankheiten“ determiniert wurden, waren medizinisch weder gesichert noch abgeklärt. Die Absicht des Gesetzes war es, als staatliche Fürsorgemaßnahme kranke (Erb-) Anlagen zu vernichten. Demzufolge hatte das Erbgesundheitsgericht die Aufgabe, über die Sterilisation eines Menschen zu entscheiden, wenn ihm ein schriftlicher Antrag auf Unfruchtbarmachung vorgelegt wurde, welchen der Unfruchtbarzumachende selbst, sein gesetzlicher Vertreter oder aber – was in der Praxis üblicher war – der Leiter des zuständigen Gesundheitsamtes oder ein anderer beamteter Arzt stellen konnte, das Gericht tagte dabei unter Ausschluss der Öffentlichkeit. Darüber hinaus hatte das Gericht die Erlaubnis, sowohl Sachverständige als auch Zeugen anzuhören und den Unfruchtbarzumachenden untersuchen zu lassen. Falls der Unfruchtbarzumachenden nicht zur Verhandlung erschien, konnte das Gericht seine polizeiliche Vorführung anordnen. Ärzte, die als Zeugen oder Sachverständige vernommen wurden, waren verpflichtet auszusagen und konnten sich nicht auf das Berufsgeheimnis berufen, unabhängig davon, ob es sich um Informationen handelte, die unter das Schweigepflichtgesetz fielen.

„Rassenhygienisches“ Propagandabild der 1930er Jahre

Die damalige Umsetzung der Zwangssterilisierung in Deutschland endete mit dem Ende des Zweiten Weltkrieges, eine Rehabilitation der Opfer blieb jedoch in weiter Ferne. Erst in den 1980er Jahren hatten zwangssterilisierte Menschen in der Bundesrepublik die Möglichkeit, eine einmalige Beihilfe von 5.000 DM zu beantragen. Ab 1999 standen allen Betroffenen monatliche Rentenzahlung in Höhe von 100 DM zu. Nur Betroffene, welche bis zum Zeitpunkt der Ermordung ihres Elternteils noch nicht das volljährige Alter erreicht hatten, waren aufgrund eines Versorgungsanspruchs anspruchsberechtigt. Jedoch kam diese Hilfe für den Großteil der zwangssterilisierten Personen zu spät.

Von der Stigmatisierung zur Solidarität: Wie können Gedenkstätten die Akzeptanz und Inklusion fördern? – Die Gedenkstätte in Hadamar als Beispiel für die Aufarbeitung

Anlieferung von Euthanasieopfern mit den „grauen Bussen“ im Rahmen der Aktion T4

Das vorrangige Ziel der „Euthanasie“-Gedenkstätten ist es, durch die Bewahrung des historischen Ortes die Erinnerung an die Opfer der nationalsozialistischen Krankenmorde wachzuhalten und ihnen zu gedenken. Die baulichen Überreste der ehemaligen Tötungsanstalten stehen zwar im Mittelpunkt der Gedenkstätten als Mahn- und Erinnerungsorte, werden jedoch durch zusätzliche Elemente wie Ausstellungen, Dokumentationen, Namenstafeln, Opferbücher, Kunstwerke und Gedenkkreuze ergänzt.

Es soll sichergestellt werden, dass Gedenkstätten als multifunktionale Lehrorte agieren, um Besuchern eine klare Verbindung zwischen dem Gedenkbereich und den Dokumentationen der begangenen Verbrechen in Form einer permanenten Ausstellung zu vermitteln. Zusätzlich obliegt es den Gedenkstätten, den Besuchergruppen, welche oftmals aus dem schulischen Umfeld stammen, eine pädagogische Betreuung während des Besuchs zu gewährleisten. Hierbei kommt den Hinterbliebenen der Opfer eine besondere Rolle zu. Im Gegensatz zu Gedenkstätten, die auf dem Platz ehemaliger Konzentrationslager errichtet wurden, stellen die „Euthanasie“ – Gedenkstätten eine junge Institution dar.

Dies ist insbesondere auf das langjährige Fehlen gesellschaftlichen Interesses an den Opfern zurückzuführen, welches erst in den 1980er Jahren eine Wende erfahren hat. Im Verlauf des Nationalsozialismus übernahm die T4 – Organisation insgesamt sechs Anstalten, welche geräumt und mit Einrichtungen zur Ermordung der Opfer ausgestattet wurden. Eine dieser Anstalten befand sich in Hadamar.

Stolperstein für Johann Faulhaber, T4 (gegenüber T3, 14)

„Die Erinnerung darf nicht enden; sie muss auch künftige Generationen zur Wachsamkeit mahnen.“

Bei genauer Betrachtung des genannten Zitats des ehemaligen Bundespräsidenten Roman Herzog wird deutlich, dass das Erinnern und das Bewusstsein für die Geschehnisse und Folgen des Nationalsozialismus von immenser Bedeutung sind und niemals in Vergessenheit geraten dürfen. Es ist von essenzieller Bedeutung, das Wissen und die Aufklärung über diese Ereignisse für künftige Generationen zu bewahren, um sowohl das Verständnis für die Vergangenheit zu fördern als auch zur Verhinderung ähnlicher Ereignisse in der Zukunft beizutragen.

Besonders im Kontext des „Euthanasie“ – Verbrechens dient die Gedenkstätte in Hadamar als Erinnerungsort für die Opfer und Verfolgten des Nationalsozialismus. Diese Gedenkform soll nun anhand der genannten Gedenkstätte deutlich gemacht werden.

Blick auf den rauchenden Schornstein des Krematoriums in Hadamar

In der damaligen Tötungsanstalt Hadamar, wurden von 1941 bis 1945 fast 15.000 Menschen mit psychischen Erkrankungen und Behinderungen ermordet, dazu gehörten sowohl Junge und Alte als auch Frauen, Männer und Kinder.

Seit dem Jahr 2005 verfügt die Gedenkstätte über eine Opferdatenbank, die Auskunft darüber gibt, welche Verlegungswege der Patienten bekannt sind, zu welchem Zeitpunkt sie verstorben sind und ob möglicherweise Patientenakten vorliegen. Diese Datenbank hat dazu beigetragen, dass das Interesse an den Schicksalen der Patienten erheblich gestiegen ist. Im Kontext dessen ist es von besonderer Bedeutung, auf ein nachfolgendes Unterstützungsangebot aufmerksam zu machen, welches speziell für Angehörige der Opfer eingerichtet wurde. Eine der angebotenen Unterstützungsmöglichkeiten ist beispielsweise ein freiwilliges, persönliches Gespräch mit den Hinterbliebenen der Opfer. Es erscheint zunächst plausibel anzunehmen, dass die Gedenkstätte ein Unterstützungsangebot anbietet, betrachtet man jedoch die Reaktionen der Angehörigen während der Gespräche zeigt sich, dass die Idee solch ein Angebot anzubieten, ein bedeutender Schritt mit einer positiven Wirkung für die Angehörigen der Opfer war.

Im Folgenden wird näher auf die Gefühle und Reaktionen der Angehörigen während einem persönlichen Gespräch eingegangen.

„Man spürt, dass sich in den Familienangehörigen viel Hilflosigkeit, Trauer Fassungslosigkeit und manchmal auch Wut über Jahre oder auch Jahrzehnte angestaut hat“.

Für diese Annahme lassen sich mehrere Gründe anführen. Zum einen steht der Verlust zu dem geliebten Menschen im Vordergrund, die Angehörigen verspüren vielerlei Emotionen, mit denen sie während der persönlichen Gespräche konfrontiert werden. Im Zuge der Gespräche offenbarten die Angehörigen ein Gefühl von Zufriedenheit und Erleichterung, das durch den Austausch mit Außenstehenden sowie das Teilen persönlicher Gedanken entstand. Darüber hinaus erhielten sie kompetente Antworten auf ihre Fragen und das bestehende Schweigen innerhalb der eigenen Familie wurde thematisiert, wobei gemeinsam versucht wurde, dieses zu überwinden.

Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass die Gedenkstätte in Hadamar einen bedeutenden Beitrag dazu geleistet hat, dass das „Euthanasie“-Verbrechen im Nationalsozialismus nicht in Vergessenheit gerät. Insbesondere durch die Einbindung von Familienangehörigen der Opfer und die folgenden Gespräche wurde deutlich, dass bis heute zahlreiche Fragen bestehen, die unbedingt beantwortet werden müssen, um die Vergangenheit angemessen zu verarbeiten. Es ist dabei von großer Bedeutung, den Angehörigen die gebührende Aufmerksamkeit zu schenken, da ihre emotionalen Bedürfnisse oft noch unzureichend berücksichtigt werden. Diese Erkenntnisse wurden insbesondere während der Gespräche deutlich.

Vom Schweigen zu Erzählungen: Wie haben Überlebende und ihre Familien zur Gestaltung der Gedenkkultur beigetragen?

„Denn für und in der Welt hat nur das Bestand, was mitteilbar ist. Das Nichtmitgeteilte, das, was niemanden erzählt wurde und auf niemanden Eindruck machte, das, was nirgends eingeht in das Bewusstsein der Zeiten und ohne Bedeutung in dem dumpfen Chaos des unbestimmten Vergessens versinkt, ist verdammt zur Wiederholung; es wiederholt sich, weil es, obwohl wirklich geschehen, in der Wirklichkeit keine Bleibe gefunden hat“.

Erst mit dem Verstummen der Opfer wird es möglich, den Fokus von ihnen abzuwenden und eher Mitgefühl mit den Tätern als mit den Opfern zu empfinden. Das Schweigen sowohl der Ermordeten als auch der Überlebenden lässt Raum für Interpretationen ihrer individuellen Lebensrealitäten. Unsere angstvollen, distanzierten und mitleidigen Blicke bleiben dabei jedoch oft hinter der Perspektive der Betroffenen zurück und vermag es selten, ihr Empfinden zu reflektieren. Angesichts der Lücke, die sich zwischen der Gesellschaft und den Opfern aufgetan hat, ist es unabdingbar, unsere Aufmerksamkeit nunmehr vermehrt auf die Familien der Opfer zu richten. Hierfür sprechen verschiedene Gründe: Zum einen bietet sich der Gesellschaft dabei die Möglichkeit, die Opfer der NS – „Euthanasie“ nicht allein auf ihre Erkrankungen und Behinderungen zu reduzieren, wie es die Täter machten, sondern sie in all ihren Facetten und vielfältigen Lebensrealitäten zu würdigen. Ein weiterer Faktor liegt darin begründet, dass der innerfamiliäre Umgang mit den Taten und den Opfern im Besonderen wertvolle Hinweise darauf liefert, welche Herausforderungen und Chancen sich uns im Umgang mit der Vergangenheit im Kontext psychisch und geistig behinderter Personen offenbaren. Die Blickwinkel der Betroffenen im familiären Umgang mit den begangenen Verbrechen sind auch von den umgebenden sozialen Gegebenheiten geprägt.

In diesem Zusammengang ist ebenso der juristische Umgang sowie die langjährige gesellschaftliche Ignoranz mit einzubeziehen. Es ist von besonderer Wichtigkeit zu erwähnen, dass das Streben nach sozialer Anerkennung und gesellschaftlich – politischer Würdigung ein zentrales Anliegen darstellt, welches hervorgehoben werden sollte. Jene Charakteristika, nämlich Offenheit, Empathie, Akzeptanz, welche seitens der Mehrheitsgesellschaft unabdingbar sind, erfordern einen unmittelbaren sowie angstfreien Blick in den Spiegel. Die Rolle von Zeitzeugen ist unerlässlich, ihre Erfahrungsberichte und Erinnerungen tragen dazu bei, dass sich die Gesellschaft der Verantwortung und der Konsequenzen solcher Taten bewusst wird und sich damit auseinandersetzt, zudem können Zeitzeugen wertvolle Einsichten liefern, um ähnliche Ereignisse in der Zukunft zu verhindern.

„Dann sind die Bücher da, dann sind die Dokumente da. Etwas muss unbedingt bleiben. Es bleiben die Erinnerungsorte, das muss wirken“.

Jene Worte stammen von Éva Fahidi, einer Überlebenden des Holocaust, auf einer kleinen Bühne in Berlin vorgetragen. Durch ihr Auftreten appelliert sie an die Gesellschaft, die Erinnerung an vergangene Geschehnisse nicht in Vergessenheit geraten zu lassen, selbst für den Fall, dass es keine Zeitzeugen mehr geben wird, welche über diese berichten können.

Euthanasie-Opfer als Symbol für den Kampf gegen das Vergessen: Welche Einzelschicksale inspirieren uns, uns dafür die Erinnerung einzusetzen?

Stolperstein für Alfred Krumkühler, Neuenburger-Straße-21 in Bremen

„Jedes Opfer hat ein Recht darauf erkannt und benannt zu werden“.

Im Jahr 2014 kam der ehemalige Justiz- und Innensenator von Berlin, Dr. Erhardt Körting, zu dem Ergebnis, dass es aus juristischer Sicht sowohl für die Opfer als auch für ihre Angehörigen keine Gründe gibt, die gegen die Veröffentlichung der vollständigen Namen, Geburts- und Sterbedaten von Euthanasie- Opfern sprechen. Dies war das Ergebnis seines Gutachtens. Die dadurch gewonnenen Erkenntnisse sollen nun anhand der Nennung zweier Opferbiografien fruchtbar gemacht werden.

Lothar Böttinger

Der Sohn eines Polizeiwachemeisters, Lothar Böttinger aus Mannheim-Seckenheim, wurde laut Krankenakte als stark verblödet beschrieben, war jedoch seinen Eltern eine Hilfe im Haushalt. Nachdem er von zu Hause weggelaufen war, wurde er im April 1944 aufgrund einer Verschlimmerung seines Zustandes und mangelnder Überwachung von seiner Mutter in die Heil- und Pflegeanstalt Wiesloch zurückgebracht. Von dort aus wurde er am 5. Juni 1944 mit einem Sammeltransport nach Hadamar überführt. Dort verstarb er nach fünf Wochen am 14. Juli im Alter von 22 Jahren angeblich an einer Darminfektion.

Ein Brief der Anstalt an seine Mutter, der einen Tag vor seinem Tod geschrieben wurde, wirft Zweifel auf. In diesem Brief wurde darauf hingewiesen, dass Lothar Böttinger nicht arbeitsfähig war, nicht selbständig sitzen konnte und intensiver Pflege bedurfte. Es wurde betont, dass er ständig im Bett gehalten werden müsse und sein Zustand lebensbedrohlich sei, da er an einer Darminfektion und hohem Fieber schwer erkrankt sei. Diese Informationen lassen darauf schließen, dass Lothar Böttinger möglicherweise ermordet wurde, da er nicht arbeitsfähig war und eine intensive Pflege benötigte.

Alfred Krumkühler

Alfred Friedrich Krumkühler war der Sohn eines Schiffsoffiziers. Nach Abschluss seines Unterrichts an der Volksschule strebte der junge Krumkühler mit 13 Jahren eine Lehre als Küfer im Hafen von Bremen zu beginnen. Es wurde später bekannt, dass er während seiner Lehrzeit stets in sich gekehrt war und selbst nach Abschluss derselben in die Arbeitslosigkeit entlassen wurde, wodurch er sich immer weiter zurückzog und seltsame Zuckungen im Gesicht entwickelte. Zu jenem, Zeitpunkt wandte sich seine Mutter an die Bremer Beratungsstelle für Nerven- und Gemütskranke, da ein Verdacht auf Schizophrenie bestand, woraufhin eine Einweisung in die Nervenklinik erwogen wurde. Schließlich wurde er auf eine Landpflegestelle auf einem Bauernhof gebracht, dort floh er.

„Ich bin fort, nicht wegen der Arbeit, sondern wegen meinen Nerven. In meinem eigenen Interesse. Ich muss unter Leute, Abwechslung und Ruhe haben. Hochachtungsvoll Alfred Krumkühler. Sie brauchen sich keine Sorgen zu machen. Ich bin normal. Grüßen Sie die Anstalt“.

Diese Nachricht schrieb er auf einem Zettel, welchen er zurückgelassen hatte. Alfred Krumkühler wurde am 13. August 1942 zusammen mit 125 anderen Patienten in die hessische Anstalt Hadamar verlegt, wo er fast drei Monate überlebte. Bei seiner Beerdigung erschien kein Angehöriger. Seit 2006 befindet sich in der Neuenburger Str. 21 ein Stolperstein für ihn, initiiert von Schülerinnen und Schülern des Schulzentrums Walle. Diese Idee entstand nach einer Führung durch die Dauerausstellung im Krankenhaus – Museum in Bremen und einem Gespräch mit einer Zeitzeugin. Es sei an dieser Stelle von besonderer Bedeutung zu erwähnen, dass der verstorbene, dessen Leben lediglich 28 Jahre umfasste, die Schulgemeinschaft insbesondere aufgrund seiner Biografie anspricht. Sein kurzes Dasein war von tiefgreifenden Erlebnissen geprägt, die auch Jugendliche aus der heutigen Zeit keineswegs unberührt lassen.

Euthanasie-Verbrechen enthüllt: Bildung als Weg zur Erkenntnis – Schülerstimmen, die schockieren und inspirieren!

In der Broschüre richten wir den Fokus auf ein Thema, das oft im Schatten des Holocaust steht: die Euthanasie-Verbrechen während der nationalsozialistischen Zeit. Dabei wurden Schülerinnen und Schüler befragt, um ihre Meinungen und Ansichten zu verstehen, wie wichtig es ist, diesem oft vergessenen Thema Aufmerksamkeit zu schenken und darüber aufzuklären.

Viele Schülerinnen und Schüler, die befragt wurden, sind der Meinung, dass Aufklärung über die Euthanasie-Verbrechen von entscheidender Bedeutung ist. Sie betonen, dass dieses Thema nicht länger im Schatten des Holocaust bleiben sollte. Durch Aufklärung können wir nicht nur die Geschehnisse achten, sondern auch sicherstellen, dass sich solche schrecklichen Ereignisse nie wiederholen.

Bedenkenswerter Weise wussten viele Schülerinnen und Schüler nicht viel über dieses Thema, was auf den dringenden Bedarf an mehr Aufmerksamkeit und Informationen darüber in den Schulen hinweist. Es ist von größter Wichtigkeit, dass dieses düstere Kapitel der Geschichte in den Lehrplänen verankert wird, um sicherzustellen, dass künftige Generationen sich bewusst sind, wie wichtig es ist, Diskriminierung und Unmenschlichkeit zu erkennen und zu bekämpfen.

Ein herzlicher Dank geht an alle Schülerinnen und Schüler, die an der Befragung teilgenommen haben. Ihre Meinungen und Gedanken sind von großem Wert und haben uns geholfen, die Bedeutung der Aufklärung über die Euthanasie-Verbrechen zu verstehen. Mit Ihrem Engagement helfen die Schüler mit, dieses wichtige Kapitel unserer Geschichte ins Licht zu rücken und die Erinnerung an die Opfer am Leben zu halten. Ihre Teilnahme ist ein Schritt in Richtung einer inklusiveren und aufgeklärteren Gesellschaft.

Zitate:

„Ich finde, es hat so eine große Bedeutung, da es eine Möglichkeit bietet, den Opfern wenigstens einen minimalen Bruchteil ihrer Menschenwürde zurückzugeben, die so dermaßen in den Dreck gezogen wurde. Außerdem dient es der Vorbeugung, um so etwas Menschenverachtendes in Zukunft zu verhindern. Der beste Weg dazu ist meiner Meinung nach Aufklärung“. (Violetta 18)

„Es ist von großer Wichtigkeit, dass wir die Opfer der Euthanasieverbrechen in Erinnerung behalten. Gerade heute, in Zeiten von sozialen Medien, haben vor allem viele junge Menschen eine Art Tunnelblick entwickelt und verdrängen somit die Vergangenheit. Wir sollten uns jedoch unbedingt jeden Tag gegen das Vergessen einsetzen und uns bewusst vor Augen halten, welches Leid die Opfer tragen mussten“. (Emelie 18)

„Es ist so wichtig, dass man so etwas stets aufgreift, damit man einfach nicht vergisst, was Menschen anderen Menschen angetan haben, die es ebenso verdient haben, frei zu leben und geliebt zu werden wie jeder andere Mensch. Man sagt, Geschichte ist die Vergangenheit, aber sie lehrt uns immer wieder, dass Vergangenes nicht wiederholt werden darf und wie wichtig es ist, uns als Menschen zu verbessern, weil das das Mindeste ist, was wir tun können“.

(Nancy 19)

„Ich finde, es ist wichtig, das Thema in der heutigen Zeit aufzuarbeiten, damit wir die Motive und Taten der Menschen in der Vergangenheit verstehen und sie nicht vergessen, sondern im Gedächtnis behalten, um sie nie wieder zu wiederholen. Die Opfer hatten damals nicht die Möglichkeit, sich zu äußern, und umso wichtiger ist es meiner Meinung nach, für diese Menschen auch heute noch einzustehen und ihr Leiden der Gesellschaft mitzuteilen, auch um ihnen gerecht zu werden und das Andenken an sie zu bewahren.

Vieles in der heutigen Zeit ist erst ermöglicht worden, weil Menschen in der Vergangenheit Fehler gemacht haben. Nur durch die Menschenrechtsverletzungen von damals ist es heute möglich, die Menschenrechte so sehr zu ehren. Dies stärkt auch den Respekt und das Mitgefühl in der Gesellschaft“. (Julian 19)

„Nachdem ich über die Broschüre gehört habe, ist mir erst einmal bewusst geworden, wie wenig ich über dieses Thema aufgeklärt bin. Ich finde, insbesondere das Bildungssystem braucht diesbezüglich dringend Aktualisierung“. (Sarah 18)

„Ich finde, dass die Aufklärungsarbeit in der Schule im Bezug auf Euthanasieverbrechen weiterhin oder verstärkt erfolgen sollte. Das Ausmaß der Verbrechen und das Leid, das bei den Angehörigen hinterlassen wurde, ist vielen Menschen nicht bewusst und muss viel intensiver behandelt werden. Natürlich als Respektbezeugung gegenüber den Opfern und Angehörigen, aber auch, um die nachfolgenden Generationen vor der Wiederholung eines solch schlimmen Verbrechens zu schützen“. (Frieda 17)

„Ich finde es besonders wichtig, dass ALLE historischen Unrichtigkeiten, besonders die „Euthanasie“-Verbrechen, aufgearbeitet werden und nicht in Vergessenheit geraten, denn Aufklärung und Prävention solcher Ereignisse sollten für uns heute an erster Stelle stehen. Die Hunderttausende von Menschen, die zu Unrecht diesem Verbrechen zum Opfer fielen, werden häufig unter den Teppich gekehrt und führen ein Nischendasein hinter den Millionen Opfern des Holocaust. Jedoch ist es ein nicht weniger bedeutender Missstand, da er durch geringere Kausalitäten verursacht wurde. All die grausamen Taten, die wir heutzutage leider nicht mehr rückgängig machen können, verdienen es, gehört und aufgeklärt zu werden, um den Opfern Respekt zukommen zu lassen“.

(Helen 19)

Widmung

Liebe Leserinnen und Leser,

in diesen Zeilen schreiben wir nicht nur über die Vergangenheit, sondern auch über unsere Gegenwart und Zukunft. Diese Broschüre ist nicht nur ein Buch, sondern ein Aufruf zum Handeln, ein Versprechen, dass wir nicht vergessen werden. Es ist eine Widmung an die Opfer der Euthanasie, an jene unschuldigen Seelen, die durch die Gnadenlosigkeit des Unrechts ihre Stimme verloren haben.

Es ist schwer in Worte zu fassen, welches Leid diese Menschen ertragen mussten. Ihre Träume wurden durch die Dunkelheit der Intoleranz erstickt, und ihre Hoffnungen wurden von einer grausamen Ideologie zerstört. Doch heute, in einer Zeit, in der wir die Möglichkeit haben, ihre Geschichten zu erzählen, dürfen wir nicht schweigen.

Diese Opfer waren keine Namenlose, keine Nummern, sondern Menschen mit Geschichten, Träumen und Hoffnungen. Sie waren Mütter und Väter, Schwestern und Brüder, Freundinnen und Freunde. Sie waren genauso wie wir, und sie verdienen es, respektiert und erinnert zu werden. Es ist unsere Verantwortung sicherzustellen, dass ihre Erinnerung nicht nur in den Seiten dieser Broschüre, sondern auch in unseren Herzen lebendig bleibt.

Das Unrecht der Euthanasie war lange Zeit ein düsteres Geheimnis, ein Tabu-Thema, über das man kaum sprach. Doch heute haben wir die Macht, dieses Schweigen zu durchbrechen. Wir haben die Möglichkeiten, ihre Geschichten zu teilen und sicherzustellen, dass ihr Leid nicht vergeblich war. Jede Seite dieses Buches ist ein Schrei nach Gerechtigkeit, ein Appell an die Menschlichkeit und ein Versprechen, dass wir nicht zulassen werden, dass ihre Opfer vergessen werden.

Lasst uns gemeinsam gegen das Vergessen kämpfen. Lasst uns ihre Leben ehren, indem wir uns gegen jede Form von Ungerechtigkeit erheben. Lassen Sie uns ihre Namen aussprechen und ihre Geschichten erzählen, damit ihre Opfer nicht umsonst waren. Diejenigen, die ihre Stimmen nicht erheben konnten, haben nun uns, um für sie zu sprechen. Möge diese Broschüre nicht nur ein Buch sein, sondern ein lebendiges Mahnmal für diejenigen, die durch die Grausamkeit des Menschen ihr Leben verloren haben.

In Dankbarkeit für Ihr Interesse, Ihre Empathie und Ihr Engagement im Namen derer, die nicht mehr für sich selbst sprechen können.

Mit herzlichen Grüßen,

Miriam Cardaci

Weiterführende Literatur:

  • Braß, Christoph: Zwangssterilisation und >Euthanasie< im Saarland 1935 – 1945, Panderborn, München, Wien, Zürich: Verlag Ferdinand Schöningh GmbH, 2004.
  • Engelbracht, Gerda: Erinnerungsbuch für die Opfer der NS – Medizinverbrechen in Bremen, 1. Aufl., Rotenburg: Edition Falkenberg e.K. Verlag, 2016.
  • Hohendorf, Gerrit: Der Tod als Erlösung von Leiden, Göttingen: Wallstein Verlag, 2013.
  • Kühl, Richard / Ohnhäuser, Tim / Westermann Stefanie: NS – „Euthanasie“ und Erinnerung, 3. Aufl., Berlin: LIT Verlag, 2020.

Bildquellen:

http://www.gedenkstaette-grafeneck.de/startseite/geschichte/_euthanasie_-verbrechen.html

https://taz.de/Historiker-ueber-Euthanasie-Verbrecher/!5515166/

https://www.deutsche-digitale-bibliothek.de/item/MKNQZRRPSRFHIBDLGPUMWJXWDC6BZSWV

https://www.gedenkstaette-hadamar.de/blog/2023/01/09/17-januar-1941-der-erste-transport-vom-kalmenhof-nach-hadamar/

https://www.gedenkstaette-hadamar.de/geschichte/aktion-t4-1941/

https://www.mdr.de/geschichte/ns-zeit/politik-gesellschaft/zwangssterilisation-euthanasie-gesetz-zur-verhuetung-erbkranken-nachwuchses-100~amp.html